Das Bewusstsein für die Notwendigkeit ernsthafter Transformationspolitik ist in wachsenden Teilen des  bundesdeutschen Mainstreams in den letzten fünf Jahren deutlich gestiegen. Das verdankt sich zwei Faktoren: Dem Wechsel der Bundesgrünen vom Zeigefinger-Rand ins Zentrum der Gesellschaft seit 2018. Und in größerem Maße noch der bürgerlichen Junge-Menschen-Zukunftsbewegung Fridays for Future, die ihre Elterngeneration auf eine vorher nicht dagewesene Weise sensibilisiert und im Sinne des Wortes bewegt hat. Der Grüne Wahlkampf-Slogan „Bereit, weil ihr es seid“ schien daher 2021 plausibel und smart zu sein, weil er sagte: Wir schreiben euch nichts vor, sondern wir machen die Politik, die ihr mehrheitlich wollt und fordert.

Doch der Wechsel vom Sprechen zum Machen durch das neue Wirtschafts- und Klimaministerium des Grünen Vizekanzlers Robert Habeck hat ersteinmal einen gesellschaftlichen Schock ausgelöst. Der Grund: Darüber zu sprechen, wie wichtig und zentral die Transformation der Wirtschaft zur Linderung der Erderhitzung und der damit zusammenhängenden Probleme ist, war in den Jahren von Angela Merkels Kanzlerinnenschaft zur eingeübten Routine geworden. Dazu gehörte aber auch, dass dem Sprechen keine politischen Taten folgten.

Das jüngste Klimagesetz, das im Juni 2021 durch die damalige Bundesregierung von Union und SPD beschlossen wurde, verschärfte zwar die Ziele, aber angegangen wurde nichts mehr, wie überhaupt von diesen beiden Parteien nichts angegangen wurde, was das Einhalten des Pariser Klima-Abkommens im Entferntesten möglich machen würde. Meine These ist, dass es nicht nur an der inhaltlichen Ermüdung der beiden großen Parteien des 20. Jahrhunderts lag, sondern dass es sich um eine unausgesprochene Übereinkunft von Politik und Gesellschaft handelte, nach der man sich theoretisch einig war, alles tun zu wollen, es aber faktisch okay war, nichts oder viel zu wenig zu tun.

Schon gar nicht, irgendjemand in irgendeiner Form belasten. Braunkohle-Ausstieg viel zu spät im Jahr 2038, dafür mit Milliardenhilfen. CO2-Preis homöopathisch damit der Erdgaskessel weiter brummen konnte, und wenn die fossilen Preise explodieren, übernimmt der Staat die Rechnung. Das war der sozial- und christdemokratischer Ansatz. Und das hatte offensichtlich Folgen. Im Fall der technischen notwendigen Innovation im Heizungskeller hat das selbst bei Gutverdienern zur Vollkasko-Haltung geführt: wenn überhaupt Klimaschutz, dann soll der Staat bezahlen. Wie CDU und FDP im Frühsommer den Untergang von Millionen deutscher Hausbesitzer beschworen, hat künftigen Klimaschutz stärker blockiert als die Klebeaktionen der Aktivisten von der „Letzten Generation“. Nun werden auch die sehr gut Verdienenden fast die Hälfte der Kosten einer Wärmepumpe vom Staat bezahlt bekommen. Wenn aber jede kleine Regelung vom Staat mit Milliarden Euro finanziert werden muss, dann können wir uns Klimaschutz tatsächlich nicht leisten.

Alles, was seit der Bundestagswahl passierte, hat auch mit dem Wahlergebnis der Grünen zu tun. 14,8 Prozent. Das war angesichts der Erwartungen eine krachende Niederlage. Ein eindeutiges Votum gegen die selbsternannte Kanzlerinkandidatin Annalena Baerbock, aber auch ein Votum, dass die Gesellschaft zwar Klimaschutz von der Regierung will, aber eben schön eingehegt von fossilem Sozialdemokratismus und klassisch-fossilem Freiheitsdenken. Erschwerend kommt hinzu, dass Christian Lindners One Man-Show alias FDP vielerorts an der 5-Prozent-Schwelle herumkrebst und deshalb um den Kern der Wählerschaft kämpft. Dem Sozialdemokraten Olaf Scholz, wiederum, wird oft vorgehalten, dass er sich als „Klimakanzler“ auf Wahlplakaten inszenierte. Aber, mein Gott: Wir wissen doch, wie Werbung funktioniert. Wer das Ernst genommen hat, ist selbst schuld. Die viel kritisierte Widersprüchlichkeit dieser Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP drückt aber letztlich nur die Widersprüchlichkeit der bundesdeutschen Gesellschaft aus, die nicht weiß, was sie will, aber im Zweifel lieber nicht. Gleiches gilt übrigens gleichermaßen für weite Teile der Wählerschaft der CDU/CSU.

In der ersten Phase der sogenannten „Ampel-Koalition“ war der Grüne Vizekanzler Habeck mit seinem selbstreflexiven No-Bullshit-Sprechen und seiner Energiesicherung jenseits von Grüner Ideologie zum politischen Leader der Mehrheitsgesellschaft aufgestiegen. In den multiplen Krisen des russischen Angriffskrieges gelang es ihm sogar Zustimmung für reales Bürgerengagement zu gewinnen, etwa durch Sparen von Gas. Je mehr er aber – wie versprochen – ins transformative Handeln kam, desto stärker sanken seine Beliebtheitswerte. Nun sagt Habeck zwar stets, sein Ziel sei es nicht beliebt zu sein, sondern in den vier Jahren, die er habe, etwas hinzubekommen. Aber in einer hypernervösen Mediengesellschaft ist nun mal beides miteinander verknüpft. Beliebte und bei Wahlen erfolgreiche Politiker sind diejenigen, die die Leute in Ruhe lassen mit Veränderung. Das galt für Angela Merkel, die nur in Krisen Legitimation sah für Handeln, das gilt für ihren Nachfolger Olaf Scholz, das gilt auch für die als erfolgreich geltenden CDU-Ministerpräsidenten und möglichen Kanzlerkandidaten.

Die große Frage dieser Zeit ist: (Wie) kann man überhaupt Zukunftspolitik MACHEN?

Verweist Habeck darauf, dass er nur die Politik mache, auf die ihn der Koalitionsvertrag, das Klimagesetz der Vorgängerregierung, das Bundesverfassungsgerichtsurteil und der globale Vertrag von Paris verpflichte, so tun andere – auch in der eigenen Regierung – das mit einer Art Paperlapapp ab, als sei das alles letztlich nicht ernstzunehmen, was man so als politische Verantwortliche verabrede und unterschreibe. Während es offenbar derzeit dem Gefühl einer Mehrheit entspricht, dass Habeck viel zu viel wolle, sagt ihm Luisa Neubauer, Stimme der deutschen Zivilgesellschaft,  dass es angesichts der physikalischen Realität viel zu wenig ist. Die Frage ist nun, wie man die gesellschaftliche und die physikalische Realität einander näherbringt und wie es Habecks Ministerium gelingt, Marktwirtschaft und Regulierung zu einem Innovationstreiber zu verknüpfen.

Mittlerweile ist zunehmend Leuten klar, dass transformative Wirtschafts- und Klimapolitik nicht mit „Green Leadership“ funktioniert, schon gar nicht durchregiert werden kann, sondern dass es mindestens eine der beiden Ex-Volksparteien braucht, die das auch ernsthaft zu ihrer Sache machen, vermutlich sogar einen Grundkonsens aller demokratischen Parteien. Davon aber scheint Deutschland im Moment weiter entfernt als gerade noch erhofft. Alle Parteien versuchen derzeit durch Abgrenzung von den Grünen und transformativer Wirtschafts- und Klimapolitik zu punkten.

Die Palette ist breit. Da ist zuvorderst die AfD, die die Grünen als Gegenpol mißbraucht, da sind Linke, für die sie elitäre Schickimicki-Ökos sind (Typ Wagenknecht), Lebenstil-Liberale, die Angst um ihren CO2-Ausstoß haben (Typ Kubicki), bayerische Schweinsbraten- und Gasheizungs-Lobbyisten (Typ Söder, Aiwanger), ostdeutsche Lebensgefühl-Rechte und – Linke, die sich an zu viel Liberalität wie an zuviel angeblicher Verbotspolitik stören. Da sind Konservative, die auf „Normalität“ pochen, auch wenn Fossilität ihre Grundlage ist. Und Sozialdemokraten, die bekanntlich auch konservativ sind und für die das bei dezenterem Sprechen letztlich genauso gilt.

Es sieht so aus, als ob alle Parteien angesichts der immensen Akkumulation von Krisen und  ihrer fehlenden politischen Mittel oder Konzepte dagegen, ihre eigene Politiklosigkeit hinter Angriffen auf denjenigen verstecken, der Reformpolitik als Realpolitik zumindest in Ansätzen versucht: Robert Habeck.

Wichtig zu sehen ist dabei, dass die Grünen gerade bei reaktionären und demokratiefeindlichen Milieus eben nicht wegen Staatsskepsis und Revoluzzertum verhasst sind, sondern weil sie die Partei zu sein scheinen, die am engagiertesten den Staat und die EU verteidigt und – das klingt jetzt etwas gewöhnungsbedürftig, Law and order, Verfassung, Recht und Gesetz. Und zukunftsfähige Realpolitik. Deshalb ist es auch so gefährlich, wenn CDU-Chef Friedrich Merz die Grünen zum Hauptgegner erklärt und den alten Ideologen- und Verbotsparteivorwurf aus der Kiste holt. Und wenn CSU-Chef Markus Söder auf der Demo enthemmter Heizungsgegner auftritt, die unter anderem Sprüche lustig finden wie “Hängt die Grünen“. Merz und Söder machen damit nämlich nicht nur Populismus gegen die Grünen stark, sie verraten sowohl die Werte als auch die Ziele der eigenen CDU/CSU. Die Union hat bisher nämlich große Übereinstimmung mit dem Politikverständnis der Grünen. Rechtsstaat, Europa, soziale Marktwirtschaft und Klimaschutz: Wenn größere Teile der Gesellschaft Merz und Söder wirklich glauben, dass Regelungen im Heizungskeller ideologische Freiheitsberaubung seien, dann wird das auf die CDU zurückfallen. Spätestens, wenn sie in einigen Jahren in der Regierung selbst die Ziele ihres eigenen Klimagesetzes umsetzen muss. Wer schützt sie dann vor populistischen Anfeindungen von rechts, dem überzogenen Schüren von ökonomischen Ängsten und dem Skandalisieren von notwendigen Gesetzesvorhaben? Die Revolte der CDU im Fall der Gebäudenergiegesetzes ist im Grunde eine Revolte gegen realpolitisches Regierungshandeln. Das ist im Fall einer bisher staatstragenden Partei sehr gefährlich für die Demokratie. 

Die Pointe der deutschen Politikgeschichte: Ausgerechnet die Grünen Habeck und auch Außenministerin Baerbock sind im Moment Figuren, die für eine halbwegs erwachsene Politik einer nüchternen Regierung stehen, die sich an der Realität orientiert – inklusive schwer Verdaulichem wie LNG-Terminals und EU-Flüchtlingspolitik –  und nicht an grünen Ideologien oder den theoretischen Idealen ihrer Urmütter und Urväter.

Innerhalb der Grünen sieht es noch anders aus, das fängt schon bei Partei- und Fraktionsführung an. Es gibt nach wie vor auch trittineskes Besserwissertum, unregulierten Moralausstoß und auch Sehnsüchte, doch bitte endlich wieder „radikal“ zu sprechen, um sich identischer mit sich selbst zu fühlen, egal, ob das was „bringt“ oder nicht. Noch fremdeln auch Grüne damit, dass die konkrete Transformation der Wirtschaft ihr politischer Kern ist und nicht eine schönere Welt. Das zwingt die Parteifunktionäre und -wähler, sich selbst geistig und politisch weiterzubilden. Man wird sehen, ob und wie weitgehend das gelingt.

Es gibt ein Beispiel, bei dem die Grünen durch Regieren in der Wählergunst stetig gewachsen sind, und das ist selbstverständlich Baden-Württemberg. Es war ein historischer Zufall, dass Winfried Kretschmann 2011 Ministerpräsident wurde, aber es war die konsequente Weiterentwicklung in eine sozialökologische Wirtschaftspartei, die den Grünen in der Folge zwei echte Wahlsiege brachte, mit denen sie erst die SPD zum Zwerg machten und dann die CDU deklassierten. Während Habeck in Berlin im Zweifel von zwei Partner-Konkurrenten dementiert oder zumindest relativiert wird, sind die Machtverhältnisse in Baden-Württemberg klar. Es ist inzwischen „normal“, dass der Grüne die Richtung vorgibt. Allerdings führt der Ministerpräsident eben nicht als Grüner, sondern als Kretschmann, das ist der Schlüssel für seine Akzeptanz. Und das hat durchaus auch bittere Konsequenzen. Etwa, als er Habeck in Sachen Heizungsgesetz (GEG) in den Rücken zu fallen müssen glaubte. Deshalb hat die klimaproblembewusste Kretschmann-Kritikerin auch recht: Ja, die Grüne Führungspartei hat ist in zentralen Momenten  – siehe Diesel, siehe Fahrverbote, siehe GEG –  keine grüne Führung geschafft, sondern sich dem fossilen Mehrheitsgefühl gebeugt.

Aber wenn der Aktivisten-Ruf „Wir haben keine Zeit mehr“ nun mal überhaupt nicht funktioniert, und es den liberalkoservativsozialdemokratischen Leuten viel zu viel ist und zu schnell geht, dann muss man versuchen, demokratische Mehrheiten für eine ausbalancierte und langsamere Zukunftspolitik zu gewinnen, die die soziale Sicherheit und die konservativen Bedürfnisse mit der ökologisch-ökonomischen Notwendigkeit zusammenbringt.

Es mag scheinen, als sei die Ausbalancierung der Asynchronität von physikalischer und gesellschaftlicher Realität eine unmögliche Mission. Aber es hilft ja nichts.